Schritt 2: Anleitung zu deinem Gehirn

Warum unser Gehirn Geschichten liebt

Geschichten, die man nicht vergisst...

Das Wichtigste in Kürze:

Bevor wir gemeinsam starten, möchte ich dich zu einem kleinen Selbstversuch einladen! Nimm dir 30 Sekunden, um die folgenden Zahlen so gut es geht auswendig zu lernen (kein Problem, wenn es nicht perfekt klappt). Zu einem späteren Zeitpunkt werden wir darauf zurückkommen.

Versuche, dir die Zahlen so gut wie möglich einzuprägen

2 3 1 4 2 1 2 3 4

Und warum das Ganze? Keine Sorge, das wirst du im Verlauf des Kapitels sehen. Bis dahin lies einfach ganz normal weiter, als wäre nichts geschehen.

Vor etwa 100 Jahren hat die Pädagogin Maria Montessori etwas Erstaunliches erkannt: Man kann den Lernerfolg eines Menschen stark beeinflussen, wenn man Inhalte richtig verpackt. 

Montessori arbeitete als Ärztin mit geistig benachteiligen Kindern. Während der Förderung dieser Kinder entdeckte sie, dass diese durch den Einsatz ganz bestimmter neuer Lernmaterialien und Lernformen innerhalb kurzer Zeit an den Leistungsstand gleichaltriger geistig gesunder Kinder aufschließen können. Es ist also nicht unbedingt „der schwere Inhalt“, der über den Lernerfolg entscheidet: Es geht darum, Inhalte möglichst geschickt zu gestalten. 

Da stellt sich die Frage (und auch Montessori stellte diese Frage):  Wo genau liegt eigentlich das Limit unseres Verstandes? Wie viel mehr könnten Menschen bei richtiger Nutzung des Gehirns leisten? Nun sind wir 100 Jahre weiter und viele Erkenntnisse einer großen Zahl von Pädagogen reicher. Und immer noch werden neue Erkenntnisse und neue Lernmethoden entwickelt.

Mehr Ertrag mit weniger Mühe: Vom Lernen, Vergessen und den Sternen

Zunächst einmal: Keine Angst – wir werden hier nicht das Gehirn in all seinen Details durchkauen – das ist gar nicht nötig. Um zu begreifen, wie man die Gehirnzellen am besten nutzt, reicht ein grober Überblick. Werfen wir deshalb zunächst einen kurzen Blick auf den Aufbau deines Gehirns. Dadurch wirst du erkennen, warum die Lerntipps dieses Kapitels funktionieren.

Unser Gehirn besteht aus unzähligen Nervenzellen. Es ist in etwa vergleichbar mit den unzähligen Sternen im Universum. Macht ein Mensch eine Erfahrung und lernt, so entstehen zwischen den einzelnen Nervenzellen Verbindungen wie in einem Sternenbild. Nach und nach entstehen ganze Netzwerke von Verbindungen, deren Komplexität kaum zu begreifen ist.

Manchmal stelle ich mir dies vor wie ein Entsperrmuster auf dem Handy. Nur deutlich komplizierter. Es werden Verbindungen zwischen den Abermillionen Nervenzellen hergestellt und im jeweils einzigartigen Muster speichern wir unsere Erfahrungen, unser Wissen und unser Können.

Es ist erstaunlich: Ein Gehirn hat in etwa so viele Nervenzellen (ca 100 Milliarden) wie es Sterne in unserer Galaxie gibt (100 – 300 Milliarden).

„Und wieso sollte mich das interessieren?“, fragst du dich vielleicht. Ganz einfach: Wenn unser Gehirn ein riesiges Netzwerk ist, ist es völlig nutzlos, neue Inhalte isoliert und ohne Zusammenhang einzuwerfen. Wir speichern Informationen immer in Form von Verknüpfungen von Nervenzellen. Tag für Tag nehmen wir Dinge in der Welt über unsere Sinne wahr. Die Wahrnehmungen werden in Form von Impulsen an das Gehirn gesendet, wo ganze Netze von Nervenzellen von den Impulsen aktiviert werden, um dadurch neue Verknüpfungen zwischen ihnen zu bilden. Dabei ist es grundlegend erst einmal egal, was „das Neue” ist: Ein toller Geschmack beim Essen, neue Playlists auf Spotify oder Lateinvokabeln.

Damit wird klar, warum das „Pauken“ einzelner Vokabeln so schwer (man könnte auch sagen: So sinnlos!) ist. Unser Gehirn ist niemals dafür ausgelegt worden, Informationen ohne Zusammenhang zu speichern. Wenn es sprechen könnte, würde es uns bei der fünften Lateinvokabel anschnauzen, mit was für sinnlosem Zeug wir es füttern – und dann dichtmachen.  

Das Gehirn als Sinn-Sucher

Dies können wir aber zu unserem Vorteil nutzen: Denn jetzt wird klar, wie wir Lernstoff für unser Gehirn „schmackhafter“ machen können! Unser Gehirn bevorzugt Informationen, die Sinn ergeben und nicht für sich allein stehen. Es will Informationen so haben, wie die Nervenzellen sich im Gehirn zur Speicherung von Informationen auch verknüpfen müssen: Sinnvoll und mit Zusammenhang.

Wir müssen eine Information also mit anderen Informationen in Beziehung setzen. Das ist auch der Grund, wieso du ellenlange englische Liedtexte ganz einfach auswendig singen kannst, dich aber mit einer Seite Vokabeln so schwertust. Ist doch klar! Wer Vokabeln lernt, schaut sich einzelne Worte und eine Übersetzung an. Man versucht also, zwei mehr oder minder zufällige Worte miteinander zu verknüpfen. Und weil dies (verständlicherweise) schwerfällt, wiederholt man diese beiden Worte immer wieder und weil diese eine Vokabel nicht die einzige ist, die du lernen sollst, wiederholst du gleich eine ganze Liste neuer Vokabeln. Und irgendwann hat man keine Lust mehr und das Buch fliegt in die Ecke. Und dann guckt man erstmal frustriert eine Folge Netflix und ärgert sich. Hier spreche ich übrigens aus eigener leidvoller Erfahrung. Diese Form des Lernens ist mühsam und ineffektiv. Kurzum: Sie ist schlecht.

Überraschend dagegen ist immer wieder, mit welcher Leichtigkeit man Vokabeln lernen kann, wenn sie in einem tollen Lied vorkommen. Hier lernt man rasch und beinahe wie automatisch auswendig. Klar, dass das kein Zufall ist. Denn hier haben wir viel mehr als bloße Vokabeln. Wir nehmen eine Melodie wahr und eine bestimmte Aussprache. Zusätzlich Inhalte, Kontext, vielleicht eine kurze Geschichte, Gefühle und Reime. Dies führt zu weiteren Verknüpfungen: Die aufgenommene Vokabel steht nun in Verknüpfung zu einem Klang. Dies ist faszinierend, denn letzten Endes kann man die Vokabeln auf diese Weise nicht nur schneller und leichter lernen, man lernt sogar noch mehr, nämlich gleich noch eine Melodie und ein ganz neues Lied. Also mehr Ertrag mit weniger Mühe? Ja, wenn unser Gehirn auf die richtige Weise angesprochen wird, dann sind wir äußerst lernfähig.

Jetzt können wir natürlich nicht darauf bauen, dass es zu jeder Vokabellektion ein passendes Lied gibt. Aber das ist auch gar nicht notwendig. Für den Alltag genügt es zu wissen, dass du dann besonders gut lernst, wenn du neue Informationen sinnvoll mit bereits bekannten Informationen verknüpfst. Ein Beispiel gefällig?

Du erinnerst dich sicherlich an die Zahlenreihe vom Anfang des Kapitels. Kannst du die Zahlen noch in der „richtigen“ Reihenfolge wiedergeben? Versuch es doch gerade mal kurz.

Und, wie lief es? Ich nehme einmal an, dass du die Zahlen nicht einfach „aus dem Ärmel schütteln“ konntest. Ich zumindest konnte es nicht. Und das ist nur verständlich! Was, denkst du, ist der Grund dafür, dass es uns so schwer fällt derartige Zahlenreihen zu lernen?

 

Wahrscheinlich geht dir dasselbe durch den Kopf wie mir: Manche Informationen, also auch diese Zahlen, sind halt einfach sinnlos, sowohl für mein Gehirn, als auch für mich selbst. Unser Wissen über die Funktion des Gehirns können wir allerdings nutzen, um das Gehirn zu „überlisten“.

Lass uns den Versuch fortführen und die Zahlenreihe jetzt ohne Mühe lernen! Die Zahlenfolge vom Anfang des Abschnitts ist ein klassisches Beispiel für die Lernfähigkeit des Gehirns. Und ich wette mit dir, dass du die Zahlenfolge in nur wenigen Sekunden dauerhaft lernen kannst! Schau dir einmal kurz folgende Geschichte an:

Ein Zweibein (Mensch) sitzt auf einem Dreibein (alter Hocker) und isst ein Einbein (Hähnchenschenkel).

Da kommt ein Vierbein (Hund) und nimmt dem Zweibein das Einbein weg.

Da nimmt das Zweibein das Dreibein und schlägt das Vierbein.

Jetzt arbeite ich schon seit zehn Jahren als Lehrer. Und bis jetzt waren immer annähernd alle Schüler sofort (!) in der Lage, die Geschichte (und damit auch die Zahlenfolge) auswendig zu wiederholen. Und dies ohne große Wiederholungsreihen. Probier es für dich doch einmal kurz aus. Du siehst also selbst: Manchmal führt „mehr lernen“ dazu, dass man besser lernt.

 

Ab jetzt musst du also die Informationen, die so wenig mit unserem Leben zu tun haben, für dich interessant und Sinn-voll machen. Dafür musst du selbst kreativ werden und die Informationen emotionalisieren, sie mit Vorwissen verknüpfen, Sinne reizen und aktiv werden. Das klingt nach Arbeit, die man gerne anderen überlassen würde. Sollen doch die Lehrerinnen und Lehrer sich Gedanken machen, wie sie Informationen für uns interessant machen können. Sollen sie sich Bilder heraussuchen, Experimente und Aufgaben überlegen und Zusammenhänge mit unserem Vorwissen deutlich machen. Das ist tatsächlich auch eine der Aufgaben von Lehrern. Leider aber macht die Welt es uns nicht immer so einfach, dass andere uns diese Mühe abnehmen. Und wenn wir ehrlich sind: Sie können es uns auch gar nicht abnehmen, denn jeder tickt anders! Der eine Sitznachbar steht halt eher auf Hardrock und Autos, der andere bevorzugt Volleyball und RnB. Deshalb muss jeder letzten Endes die Verantwortung für das eigene Lernen auch selbst übernehmen.

 

Back to earth: Was das jetzt für die Schule bedeutet

Ich denke, das Prinzip hast du kapiert. Hier nun ein paar konkrete Ideen, wie du für die Schule zu lernende Inhalte mit „Sinn anreichern“ kannst.

Hast du ein Bild zu einem Wort, einen Geschmack zu einem Essen oder einen Geruch zu einer Pflanze, so wirst du dich später viel leichter an das Wort, das Essen und die Pflanze erinnern können. Dabei kommt es nicht unbedingt darauf an, dass der Reiz real erlebt wird. Probier’s grad mal aus: Das französische Wort für Brennnessel kennst du wahrscheinlich nicht, es lautet: l’ortie. Wiederhole das Wort innerlich und stell dir dabei vor, wie du mit deiner Hand an einer Brennnessel entlangstreichst, wie sie sich anfühlt, riecht. Und wie du dich daran heftig stichst. Wiederhole dabei innerlich ein paar Mal das Wort l’ortie. Hierdurch bietest du deinem Gehirn viel mehr „Netzwerkmöglichkeiten“, als durch das bloße Aufsagen von zwei Worten.

Dies lässt sich gut auf Vokabellernen erweitern. Wenn ich mir den Begriff Kaktus merken möchte, wird sich dieser Begriff sicherlich stärker einprägen, wenn ich einen echten Kaktus sehe und seine Stacheln befühle. Der Begriff Laserschwert ist mit der Bewegung des Schwertschwungs verknüpfbar, die ich vollführe, eine Pinnwand ist mit dem besonderen Gefühl der Berührung von Kork verbunden, etc.

Falls du Vokabeln mit unterschiedlichen Artikeln lernen musst, markiere die männlichen, weiblichen und sachlichen Vokabeln einfach in unterschiedlichen Farben: männlich blau, weiblich rot, sachlich gelb. Hierdurch bindest du die Vokabel stärker in das Lern-Netzwerk ein und kannst die Artikel besser erinnern.

Gelingt es uns, eine Verbindung zwischen einer neuen Information und dem eigenen Leben herzustellen, wird sich die Information viel besser einprägen. Nutzen könntest du dies z.B., indem du einige Gegenstände zuhause mit Post-Its versiehst. Hierauf steht etwa die englische Bezeichnung für diesen Gegenstand. Ebenso kannst du dein Handy (+Siri und Co!) auf Englisch oder Französisch stellen. Warum du diese Vokabeln nun besser lernen kannst? Weil sie spürbar und ganz real Aspekte aus deinem Leben bezeichnen, denen du immer wieder aufs Neue begegnest.

Ich bin sicher: selbst zu der langweiligsten mathematischen Formel kann man Aspekte finden, die einen interessieren. YouTube ist hierzu eine wahre Schatzkiste. Mit diesem Plus an persönlichem Interesse steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass Inhalte in deinem Gehirn hängenbleiben.

Und löst dann noch etwas bei dir besondere Gefühle aus, weil du es lustig oder unterhaltsam findest, dann erhält die damit verknüpfte Information für dich eine bestimmte Bedeutung, die etwas mit dir macht und deren Einfluss du deutlich spüren kann.

An welche Schulstunden erinnerst du dich lieber zurück: Jene, in denen du sitzt und zuhörst, oder diejenigen, in denen du selbst etwas machen kannst? Ziemlich sicher letztere. Spaß macht Lernen oft dann, wenn man selbst aktiv werden kann. Wenn man die Sportübungen selbst macht, statt sie nur theoretisch zu besprechen, wenn man im Chemieunterricht eigene Experimente macht, im Biologieunterricht einen Teich in der Natur erforscht, im Deutschunterricht einen eigenen Film dreht und im Politikunterricht seine eigene Meinung in eine Diskussion einbringt.

Schwierig wird es da, wo eigene Aktivität eher schwer umsetzbar erscheint; zum Beispiel, abstrakte Formeln auswendig lernen oder grammatikalische Fachbegriffe. Mit etwas Kreativität gibt es aber immer Möglichkeiten, aktiv zu lernen.

  • Sammle Inhalte in gehirngerechter Form, z.B. in Mindmaps (dazu später mehr).
  • Fertige zu Inhalten Zeichnungen an oder erstelle Fotos. Je bunter, desto besser.
  • Suche Reimworte.
  • Sortiere Begriffe alphabetisch oder ihrer Länge nach.
  • Schreibe Inhalte in verschiedenen Farben und Schriftarten auf Karten usw.
  • Ersetze Worte durch Bilder und Piktogramme.

Je aktiver du bist, desto höher die Wahrscheinlichkeit der Vernetzung und Erinnerung. Ach ja: Und es macht mehr Spaß als bloßes Pauken.

Wir sind uns wohl einig, dass dies schon Arbeit macht. Wenn ich aber bestimmte Begriffe, bestimmte Formeln oder ähnliches für eine wichtige Prüfung lernen muss, dann kann sich dieser Aufwand plötzlich lohnen. Mehr konkrete Tricks dazu stelle ich dir in den kommenden Tagen noch vor.

Los gehts!

Sinnvolles Lernen

Zum Abschluss des Tages werden wir dies ausprobieren und mit etwas Sinnvollem verbinden! Im Politikunterricht kommen dir bald sicherlich die politischen Grundbegriffe Legislative, Judikative und Exekutive unter. Hiermit können wir gut üben, denn sie sind so herrlich sperrig!

Legislative: gesetzgebende Gewalt

Judikative: richterliche Gewalt

Exekutive: vollstreckende, vollziehende Gewalt

Nimm dir ein paar Minuten Zeit und sei kreativ. Sammle auf einer leeren Seite Ideen, wie du mit Verknüpfungen diese drei Begriffe besonders gut behalten kannst!

Das war’s für heute. Du hast nun eine grobe Vorstellung davon, wie du neue Informationen effektiv in dein Lern-Netzwerk einbringst. Morgen schauen wir uns dann an, wie du den Motor deines Gehirns optimal auf Touren bringen kannst.

Übersicht Schritt 2:

Anleitung zu deinem Gehirn

Zweites Thema

Gemütlich machen,
besser lernen